Alzheimer und Identität: „Ich habe mich sozusagen verloren“

Foto des Philosophen und Biologen Dr. Michael Jungert
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Philosoph und Biologe Dr. Michael Jungert im Interview mit der AFI: Alzheimer ist in der Mitte unserer Gesellschaft und eine gesellschaftliche Herausforderung. Anlässlich des Welt-Alzheimer-Tags am 21. September blicken wir über den Tellerrand. Lesen Sie Gespräche mit einer Literaturwissenschaftlerin, einem Humangenetiker, einem Philosophen und einem Pflegeforscher.

Erinnerungen machen unsere Persönlichkeit aus. Wenn Erlebtes mehr und mehr verblasst und Neues kaum noch gespeichert werden kann, stellt dies einen großen Einschnitt dar. Dr. Jungert gibt einen Einblick in das Zusammenspiel von Erinnerung und Identität. Bereits Alois Alzheimer zeichnete im Arztgespräch einen bemerkenswerten Satz seiner Patientin Auguste D. auf: „Ich habe mich sozusagen verloren“. Was das für die Gefühlswelt von Menschen mit Alzheimer bedeuten kann und welche Rolle Biographiearbeit spielt, berichtet Dr. Jungert im Interview.


Welche Auswirkungen haben die Alzheimer-Krankheit und der damit verbundene Verlust von Erinnerungen auf die Identität?

Erinnerungen stehen in einer komplexen Beziehung zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Identität von Personen. Autobiographische Erinnerungen, also Erinnerungen an bedeutsame Geschehnisse in der eigenen Lebensgeschichte, spielen hier eine besondere Rolle. Solche Erinnerungen enthalten nicht nur Informationen über das (vergangene) eigene Leben, sondern sind darüber hinaus auf eine Art und Weise miteinander verknüpft, die es überhaupt erst ermöglicht, sich über die Zeit hinweg als bestimmte Persönlichkeit mit einer komplexen Biographie zu begreifen und auf dieser Grundlage zu planen und zu handeln. Insofern die Fähigkeit, solche Erinnerungen speichern, abrufen und verknüpfen zu können, bei Personen mit Alzheimer stark vermindert sein kann, wird in solchen Fällen auch der bewusste Zugriff auf diese biographische Identität stark erschwert und mit fortschreitendem Verlauf kaum mehr möglich sein.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Erinnerungen häufig auch in impliziter, nicht-bewusster Form vorliegen. Solche Erinnerungen können gewissermaßen in das Körpergedächtnis im Unterbewusstsein eingeschrieben sein und durch bestimmte Schlüsselreize wie Melodien, Gerüche oder Bilder wieder hervorgerufen werden. Dieses unwillkürliche „Hervorholen“ von Erinnerungen ist auch bei Demenzerkrankungen in vielen Fällen noch möglich, wodurch zumindest manche Aspekte der biographischen Identität temporär wieder bewusst gemacht werden können.

„Ich habe mich sozusagen verloren“. Diesen Satz sagte Auguste D. im Arztgespräch mit Dr. Alois Alzheimer. Trifft dieser Zustand auf alle Menschen mit Alzheimer zu?

Das ist sicherlich vom Ausmaß und Fortschritt der Alzheimer-Erkrankung abhängig. Wenn der autobiographische Erinnerungsverlust, wie oben beschrieben, so stark ist, dass er in der Wahrnehmung der Betroffenen zu einem Verlust der biographischen Identität führt und verhindert, dass diese Identität weiter fortgeschrieben werden kann, korrespondiert diese Aussage sehr stark mit dem Empfinden vieler Angehöriger und Alzheimer-Patienten.

In diesen Fällen ist es weder möglich, sich an die eigene Biographie und die personenspezifischen Präferenzen und Handlungsmuster zu erinnern, noch gelingt es, zukünftige Entscheidungen auf der Grundlage des Wissens um sich selbst zu treffen. So ist zu erklären, dass Betroffene sich sowohl bezüglich des theoretischen Wissens über die eigene Person als auch mit Blick auf das praktische Handeln verloren fühlen.

Sollte man von einer kindlichen Identität sprechen, da bei Alzheimer Kindheitserinnerungen besonders lange erhalten bleiben?

Das wäre sicherlich zu einfach. Es ist zwar richtig, dass Erinnerungen an die Kindheit und Jugend bei Demenzerkrankungen oft auch dann noch vorhanden und abrufbar sind, wenn „frischere“ Erinnerungen nicht mehr zugänglich sind. Allerdings können auch spätere Erinnerungen je nach Art und Fortschritt der Erkrankung noch unbewusst vorhanden sein und durch bestimmte Auslöser hervorgeholt werden. Zudem wird die Identitätswahrnehmung auch durch Dritte, etwa in Form von Erzählungen und Eigenschaftszuschreibungen, beeinflusst. Durch Biographiearbeit und Erinnerungsanker können so auch Aspekte der „erwachsenen“ Identität gestärkt werden, weshalb die pauschale Zuschreibung einer kindlichen Identität zu kurz greift.

Wie wirkt sich die mit dem Erinnerungsverlust einhergehende Persönlichkeitsveränderung von Menschen mit Alzheimer auf deren Gefühlswelt aus?

Gefühle stehen in vielfältigem Zusammenhang mit der biographischen Identität und den Erinnerungen von Personen. Schwindet die biographische Erinnerung an die eigenen Präferenzen, ist es beispielsweise nicht mehr in gleicher Weise möglich, mit vergangenen Entscheidungen zufrieden zu sein oder stolz auf die Lebensleistung zurückzublicken. Hinzu kommt, dass auch die emotionale Urteilsbildung über neue Erlebnisse und Erfahrungen erschwert wird, weil bei Demenzerkrankungen oft die Entwicklung hin zum Guten (oder Schlechten) nicht mehr erkannt werden kann. Das liegt daran, dass die Erinnerung an subjektive Wertmaßstäbe fehlt und in vielen Fällen nicht mehr klar ist, was aus Sicht des Betroffenen eigentlich die wünschenswerte Handlungsoption wäre.

Außerdem kann es Fälle geben, in denen der Betroffene etwa „grundlos“ traurig ist. Er verspürt zwar die entsprechenden Gefühle, kann aber den Grund dafür nicht finden (d.h. erinnern) und hängt dadurch gewissermaßen emotional in der Luft. Auch in solchen Fällen kann das Gespräch mit Dritten helfen, den Gründen auf die Spur zu kommen und dadurch eine Verbindung zwischen Gefühl und eigener Biographie herzustellen.

Wie kann die Persönlichkeitsveränderung in der alltäglichen Pflege berücksichtigt werden? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Biographiearbeit?

Das Setzen von Erinnerungsankern, wie etwa Bildern, Gerüchen und Liedern, kann den Verlust identitätsstiftender Erinnerungen in vielen Fällen verlangsamen, indem nicht-bewusste Erinnerungen durch das Präsentieren bestimmter Reize wieder bewusst gemacht werden. Dasselbe gilt auch für das Gespräch über wichtige Stationen der Vergangenheit.

Durch Biographiearbeit kann es gelingen, die Betroffenen wieder stärker mit der eigenen Biographie zusammenzubringen und dadurch auch die Zufriedenheit und das Selbstbewusstsein von Demenzerkrankten zu erhöhen, indem man die noch besser erhaltenen Fähigkeiten gezielt anspricht und damit dem Gefühl der Passivität und Gestaltungseinschränkung entgegenwirkt.

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