ein kleines bisschen rock ‘n‘ roll
11.04.2017
in einem altenpflegeheim passiert nicht mehr viel. das leben wird dominiert von einer akzeptierten monotonie, aus der niemand mehr ausbrechen kann. es sind insbesondere die mahlzeiten, die dem dasein struktur geben. frühstück, mittag, abendessen, am nachmittag vielleicht eine tasse tee, ein bisschen gebäck. jahreszeitenübergreifend lässt die dekoration der flure und gemeinschaftsräume die mitbewohner in geistig wachen momenten erahnen, dass das leben außerhalb des heims für alle weitergeht. in einem raum, in dem zeit keine rolle mehr spielt, eine komische symbolik.

das letzte mal habe ich meine oma an ostern 2003 gesehen. ich war auf dem weg zu meinen eltern und habe – wie fast immer – einen zwischenstopp eingelegt und damit auch meiner mutter ein gutes gefühl verschafft. jeder tag, an dem sie ihre mutter alleine wusste, war kein guter tag für sie. zu versuchen, die last ein bisschen auf mehrere angehörige zu verteilen, das ist wichtig. bei meiner mutter machte sich immer eine große dankbarkeit breit, wenn jemand aus dem bekanntenkreis ankündigte, meine oma zu besuchen. ein gefühl der solidarität. ein besuch bei alzheimerpatienten ist schließlich immer auch eine reise ins ungewisse. wie würde man sie antreffen? traurig, unzufrieden, fröhlich, aggressiv? noch heute kann ich die unruhe nachfühlen, die in mir aufstieg, je näher ich dem heim kam, weil ich mich genau das fragte.
direkt im eingangsbereich stand ein stolzer schwarzer flügel. die erste zeit hatte meine oma dort noch die lieder ihres langen lebens zum besten gegeben. mittlerweile ignorierte sie ihn. nichts wollte sie mehr von ihm wissen. in dem gläsernen eingangsportal musste man links abbiegen und einem langen gang folgen, links und rechts an zimmern vorbei, die mit den jeweiligen fotos der besucher versehen waren. der gang mündete in einen offenen bereich in dem auch gemeinsam gegessen wurde. es war später vormittag und da saß sie nun, meine oma, wie so häufig an einem großen tisch, damals österlich dekoriert, mit einigen anderen mitbewohnern, die sich wort- und ausdruckslos gegenüber saßen. die blicke so leer, dass sie mich bis heute durchdringen. das leben in einem altenheim hat etwas zutiefst hoffnungsloses. es ist die perspektive, die fehlt. nichts wird mehr besser. umso wichtiger sind kleinigkeiten gerade für demenzkranke. ein kleiner moment der nähe, eine kleine geste, ein kleines bisschen ablenkung, ein kleines bisschen rock ‘n‘ roll. denn manchmal dringt doch etwas durch und bringt uns den menschen, den wir schon lange verloren haben und der uns trotzdem immer noch vital gegenüber sitzt, wieder zurück.
es war ein schöner frühlingstag, an dem ich, ohne es zu wissen, meine oma das letzte mal in meinem leben sah. sie saß so, wie sie am liebsten saß. mit einer wolldecke in ihrem rollstuhl mit dem rücken zur wand, der blick richtung fenster und in den raum hinein. es war ein guter tag, das spürte ich schon aus der ferne. sie sah mich direkt, konnte mich nicht zuordnen, merkte aber, dass ich auf sie zusteuerte und als ich sie umarmte, ihre hand drückte und sagte, sie sehe gut aus, da lächelte sie. ihr äußeres war ihr immer wichtig gewesen. das hatte sie in der zwischenzeit zwar vergessen, aber komplimente dieser art blieben ihr irgendwie nie verborgen. ziemlich sicher wusste sie nicht wer ich war, aber sie spürte, dass es jemand gut mit ihr meinte. sie wirkte entspannt. viel geredet hatte sie da schon nicht mehr. umso mehr erzählte ich. sie hörte zu. ihr blick wechselte zwischen mir und einem großen schoko-osterhasen in lila stanniolpapier hin und her, den ich ihr mitgebracht hatte. liebevoll und gedankenverloren streichelte sie den schoko-hasen, während ich aufzählte, was wir das nächste mal, wenn ich mehr zeit haben würde, alles machen könnten. dass ich ihr einen frisch geräucherten aal mitbringen würde und selbstgemachten eierlikör und dass ich sie ausfahren würde durch die fußgängerzone, die sie so sehr mochte. in dem moment strahlte sie, nickte, strich dem schoko-hasen über den kopf und sagte zu ihm: „und du? du kommst dann auch mit!“ mich haben diese worte sehr berührt. so war sie, meine oma, herzensgut. niemand sollte zurückbleiben. und genau so sollten wir es auch handhaben mit menschen, die den allergrößten teil ihres lebens hinter sich haben.
bleibt stark!
eure

Vita
Okka Gundel wurde 1974 in Ostfriesland geboren. Nach einem Studium der Sozialwissenschaften in Paris, Göttingen und Nizza absolvierte sie von 2002 bis 2003 ein Programm-Volontariat beim WDR. Seit 2004 moderiert die 46-Jährige verschiedene Sportformate im Fernsehen. Bekannt ist sie aus der ARD-Sportschau, dem Morgenmagazin der ARD und den Tagesthemen. Okka Gundel lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Köln. Seit 2012 ist sie Botschafterin der Alzheimer Forschung Initiative.

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Zehn Jahre hat Christa Schneider ihre an Alzheimer erkrankte Mutter Trudi begleitet. In einem bewegenden Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen mit der Krankheit. Ihr Fazit: vorbeugen so gut es geht und spenden für die Alzheimer-Forschung.