Umgang mit Hinlauftendenz bei Demenz
Die Hinlauftendenz (engl. wandering) ist eine der häufigsten und zugleich riskantesten Verhaltensweisen bei Demenzerkrankungen wie Alzheimer.
Menschen machen sich plötzlich auf den Weg – von zu Hause oder unterwegs – und finden den Weg nicht mehr zurück.
Weil es für Außenstehende oft so aussieht, als würde die erkrankte Person fliehen, sprach man früher von Weglauftendenz.
Heute weiß man, dass Menschen mit Demenz sich mit einem Ziel auf den Weg machen. Sie laufen nicht weg, sondern hin: zum Haus ihrer Kindheit, zur früheren Arbeitsstelle, zu ihren Erinnerungen.

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Hinlauftendenz - wie kommt es dazu?
Laut Welt-Alzheimer-Report (2022) zeigt etwa jede zweite bis dritte Person mit Alzheimer im Verlauf der Krankheit eine sogenannte Hinlauftendenz. Diese entsteht, wenn Veränderungen im Gehirn die Orientierung und das Zeitgefühl beeinträchtigen.
Betroffen sind vor allem jene Hirnregionen, die für räumliche Orientierung und Handlungsplanung wichtig sind, darunter der Hippocampus und der Frontallappen. Die Erkrankten verlieren dadurch die Fähigkeit, Entfernungen und Richtungen korrekt einzuschätzen, und erkennen irgendwann auch vertraute Orte nicht mehr wieder.
Ihr Gehirn versucht dann, auf alte, gewohnte Muster zurückzugreifen, auf Routinen und Erinnerungen, die früher Sicherheit gaben. Deshalb wollen manche Menschen „zur Arbeit“, „die Kinder abholen“ oder „ihre Mutter besuchen“.
Aus dem schleichenden Verlust der Orientierung wird so ein aktives Verhalten, das sowohl kognitive als auch emotionale Ursachen hat.
Auch wenn eine Hinlauftendenz für Angehörige schwer zu verstehen ist, folgt sie einer inneren Logik. Menschen mit Demenz handeln aus einem Gefühl heraus: Sie wollen etwas wiederfinden, jemanden treffen oder einer vertrauten Gewohnheit folgen. Wer das erkennt, kann besser beruhigen, statt zu korrigieren.
Mehr Hintergründe: Desorientierung bei Demenz

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Wann tritt eine Hinlauftendenz auf?
Eine Hinlauftendenz kann in allen Phasen einer Demenzerkrankung auftreten, am häufigsten jedoch im mittleren bis fortgeschrittenen Stadium. In dieser Zeit sind Orientierung und Urteilsvermögen bereits eingeschränkt, während der Bewegungsdrang noch stark ausgeprägt ist.
Besonders oft tritt dieses Verhalten in den späten Nachmittags- und Abendstunden auf, da viele Menschen mit Demenz zu dieser Zeit unruhiger oder verwirrter werden („Sundowning“). Doch auch tagsüber kann es zu Phasen von Ruhelosigkeit kommen, etwa wenn sich Routinen ändern oder die Umgebung ungewohnt ist.
Oft machen sich Menschen dann ohne Vorwarnung auf den Weg, selbst bei gewohnten Tätigkeiten wie Spaziergängen, Autofahrten oder Einkäufen. Meistens ist es so, dass Menschen, die bereits einmal unterwegs verloren gegangen sind, dieses Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut zeigen werden.
Wenn Angehörige verstehen, wann und in welchen Situationen eine Hinlauftendenz auftritt, können sie besser vorbeugen, zum Beispiel durch Sicherheitsvorkehrungen oder Veränderungen im Tagesablauf.

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Viele Menschen mit Demenz werden am späten Nachmittag oder Abend unruhiger. Dieses sogenannte Sundowning hängt wahrscheinlich mit Erschöpfung, Dunkelheit und Veränderungen im Tag-Nacht-Rhythmus zusammen. Auch hormonelle Prozesse könnten eine Rolle spielen.
Wenn Menschen mit Demenz „nach Hause“ wollen
Fragt man Menschen mit Hinlauftendenz nach ihrem Ziel, ist eine der häufigsten Antworten: „Ich muss nach Hause.“ Und das gilt nicht nur für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen.
Der Grund? Mit fortschreitender Erkrankung leben viele Menschen mit Demenz zunehmend in ihrer eigenen Wirklichkeit. Selbst die vertraute Wohnung oder nahe Angehörige können ihnen dann fremd erscheinen. „Nach Hause“ meint in solchen Situationen dann keine bestimmte Adresse, sondern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Wenn ein Mensch den Wunsch äußert, nach Hause zu gehen, ist es wichtig, dies nicht zu korrigieren („Aber du bist doch zu Hause!“), sondern ruhig und verständnisvoll zu reagieren.
- Gehen Sie auf den Gedanken ein: Fragen Sie nach dem Zuhause, den Menschen dort und den Dingen, die die Person gerne getan hat. Oft scheinen dann die wahren Bedürfnisse durch.
- Sprechen Sie das Gefühl an: Zum Beispiel: „Fühlst du dich allein?” oder „Ich bin hier bei dir.”
- Lenken Sie behutsam ab: Ein vertrautes Lied, alte Fotos oder eine kleine gemeinsame Beschäftigung können dabei helfen, das Gefühl von Nähe wiederherzustellen.
- Reduzieren Sie Weggeh-Reize: Räumen Sie Dinge aus dem Blickfeld, die ans Weggehen erinnern – etwa Jacken, Schlüssel oder Geldbeutel.
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Was kann man vorbeugend gegen Hinlaufen tun?
Eine Hinlauftendenz lässt sich nie vollständig abstellen. Es gibt jedoch verschiedene Strategien, um das Risiko zu verringern. Dazu gehören sowohl bestimmte Sicherheitsvorkehrungen in der Wohnung oder im Haus, als auch bestimmte Anpassungen im Tagesablauf.
Bewegung und Beschäftigung fördern:
Viele Menschen mit Demenz sind körperlich unruhig oder haben einen starken Bewegungsdrang. Wer sich tagsüber ausreichend bewegt, ist abends meist ruhiger. Bewegung in sicherer Umgebung, beispielsweise beim Spazierengehen, bei kleinen Aufgaben im Haushalt oder bei der Gartenarbeit, baut überschüssige Energie ab und mindert Rastlosigkeit.Kleine Alarme nutzen:
Um ein unbemerktes Verlassen des Zuhauses zu verhindern, können kleine technische Hilfsmittel sinnvoll sein – wie eine Alarmmatte oder ein einfaches Glöckchen an der Tür.Türen unauffälliger gestalten:
In Pflegeeinrichtungen hat sich bewährt, Türen optisch zu tarnen etwa mit dem Bild von einem Bücherregal oder einer Wand. Auch zu Hause kann ein Vorhang vor der Haustür, ein schlichtes Stoppschild oder eine farbliche Anpassung helfen. Manchmal reicht es, den Türgriff zu verändern, beispielsweise eine Klinke durch einen Drehknauf zu ersetzen, den die Person nicht kennt.Die Nachbarschaft informieren:
Sprechen Sie mit Nachbarinnen und Nachbarn sowie Geschäftsleuten in der Nähe. Schildern Sie kurz die Situation und bitten Sie darum, sich zu melden, falls Ihre Angehörige oder Ihr Angehöriger allein und orientierungslos wirkt. Oft sind aufmerksame Mitmenschen die größte Sicherheit.- Technische Geräte nutzen:
Auch technische Hilfsmittel wie Smartwatches können im Notfall eine GPS-Ortung ermöglichen. Wichtig ist dabei: Die erkrankte Person muss mit der Überwachung einverstanden sein. Wird dies abgelehnt, können Sie alternativ einen Notfallausweis mitgeben oder wichtige Kontaktdaten an der Kleidung befestigen.

Bei vielen Menschen mit Alzheimer ist bereits in einem frühen Stadium der Krankheit der Orientierungssinn beeinträchtigt. Mit Fortschreiten der Erkrankung finden sich Patientinnen und Patienten auch an bekannten Orten nicht mehr gut zurecht. Personen, die allein unterwegs sind, sind in Gefahr! Deshalb sollten Sie zur Sicherheit Vorkehrungen treffen.
Dr. Michael Lorrain, Vorstandsvorsitzender Alzheimer Forschung Initiative e.V.
Wenn eine Person mit Demenz vermisst wird
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kann es passieren, dass eine Person mit Demenz unbemerkt aus dem Haus geht und nicht mehr zurückfindet. Dann zählt jede Minute. Informieren Sie deshalb sofort die Polizei – nicht erst, wenn Sie selbst schon lange gesucht haben.
Halten Sie ein aktuelles Foto und eine Beschreibung der Person bereit. Viele Menschen mit Demenz werden in der Nähe ihres Zuhauses gefunden, weil sie Schutz oder Ruhe suchen. Manchmal verstecken sie sich, reagieren nicht auf Rufe oder erkennen bekannte Stimmen nicht.
Bleiben Sie ruhig und handeln Sie überlegt:
- Suchen Sie zunächst vertraute Wege oder Orte auf – zum Beispiel frühere Wohnorte, Bushaltestellen oder Kirchen.
- Informieren Sie außerdem Nachbarinnen und Nachbarn sowie lokale Geschäfte.
- Geben Sie die Information weiter, dass die Person an Demenz erkrankt ist und sich möglicherweise orientierungslos bewegt.
- Wenn Sie einen GPS-Tracker oder einen Notfallausweis einsetzen, halten Sie die zugehörigen Daten griffbereit.
Viele dieser Situationen gehen glücklicherweise gut aus. Doch sie zeigen, wie wichtig Vorbereitung und Aufmerksamkeit im Alltag sind – und wie entscheidend es ist, Ruhe zu bewahren, wenn etwas passiert.

fsHH/Pixabay
Quellen
Alzheimer’s Disease International (ADI): World Alzheimer Report 2022 – Life after diagnosis: Navigating treatment, care and support. London 2022.
Thomas, T.; Ritter, A. (2022): Wandering & Sundowning in Dementia. In: Practical Neurology, June 2022, S. 36–44.

Lesen Sie dazu auch unseren Ratgeber
Der Ratgeber Leben mit der Diagnose Alzheimer erläutert, was auf Menschen mit Alzheimer und ihre Familien und Freunde zukommen kann. Beleuchtet werden neben medizinischen und therapeutischen Aspekten auch pflegerische, rechtliche und finanzielle Fragestellungen.
72 Seiten, 2025

Autorin
Petra Lindenberg, M.A.
hat sich nach ihrem Studium der Sprachwissenschaft als Texterin im Online-Marketing spezialisiert. Seit 2022 arbeitet sie bei der AFI in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit.



